Quelle: Jörg Stroisch/canva.com

So funktioniert das EU-Parlament: Eine neue Folge meines Podcasts "German Vote".

Podcast #9 German Vote – das EU-Parlament [de]

Wie funktioniert eigentlich das EU-Parlament? Auf jeden Fall anders als der deutsche Bundestag. In der Rubrik "Bananenkrümmung & Co" kümmert sich diese Episode um diese Institution. Eine neue Episode des Pro-EU-Podcasts German Vote (deutsche Version).
German Vote
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Podcast #9 German Vote - das EU-Parlament [de]
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In Deutschland betrachten wir Entwicklungen im Ausland gerne mit dem „deutschen Blick“. Sprich: Alles, was es im Ausland so an Institutionen gibt, wird sehr eingedeutscht beschrieben. Das ist leider oft verkürzend und falsch. Mit German Vote kümmere ich mich in der Rubrik „Bananenkrümmung & Co“ deshalb ganz bewusst um verschiedene Gepflogenheiten und Institutionen der EU und beschreibe sie. Es handelt sich hierbei also um eine Art Institutionen-Lexikon. Diese Folge beschäftigt sich nun mit dem EU-Parlament.

Neue Episoden erscheinen immer zur Mitte des Monats an Montagen. In deutsch, denn die englischsprachige Version – kenntlich gemacht an dem [en] im Titel folgt immer sofort in der darauffolgenden Woche.

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Transkription:

Immer wieder mal stelle ich in meinem Podcast Institutionelles und Abläufe in der EU vor. Das ist bei mir die Rubrik Bananenkrümmung & Co. Klar, dieser Rubrikentitel klingt ein bisschen zynisch, ist aber gar nicht so gemeint. Ich finde es persönlich eher nervig, wie unwissend über diese Dinge diskutiert wird. Alternativ zum Beispiel auch über die Gurkenkrümmung, ein immerwährender und wiederkehrender Vorwurf gegen die EU. Diese Rubrik ist also quasi eine Art Lexikon, nur nicht so neutral. Denn natürlich sollen hier auch die kritischen Stimmen zu Wort kommen.

Gerade in Bezug auf das EU-Parlament wird wirklich sehr viel Schmu in den deutschen Medien verbreitet. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass mit dem deutschen Blickwinkel das EU-Parlament erklärt wird. Es hängt aber leider auch wirklich mit Unwissenheit zusammen. Ich möchte mich jetzt nicht als den totalen Experten bezeichnen, aber da ich mal vor langer Zeit Sozialwissenschaften studiert und mich mit vielen politischen Systemen sehr ausführlich beschäftigt habe, kann ich hier schon vergleichen. Mich interessieren einfach auch sehr die Unterschiede in den politischen Systemen, um mal eine Fehlinformation zu nennen.

Wie Gesetzesinitiativen im EU-Parlament geregelt sind

Ein Beispiel: Eine Gesetzesinitiative aus der Mitte des Bundestages ist also ausdrücklich vorgesehen. Das Problem ist, dass Abgeordnete im EU-Parlament kein formales Initiativrecht für Gesetzesentwürfe haben. Sie reagieren vielmehr auf die Agenda, die vor allem durch die EU-Kommission gesetzt wird bzw. vielmehr wird über die Gesetze beraten und diese werden gemeinsam mit dem Rat der EU dann beschlossen. Dass es natürlich informelle Initiativen und Einflussnahmen gibt, steht auf einem anderen Blatt.

Marion Walsmann, Mitglied des Europaparlaments für die Europäische Volkspartei EVP.

„Geht das, wenn man keine Initiativrechtsbefugnis hat? Ja, es funktioniert. Ich hätte zwar gerne als Abgeordneter auch ein Initiativrecht für die Fraktion. Aber es geht auch so. Und man hat also schon kreative Gestaltungsmöglichkeiten. Denn das Parlament kann ja ein Dossier ganz ablehnen. Es kann es komplett verändern. Es kann es auch einfach annehmen, weil es gut ist. Aber in dieser ganzen Bandbreite sind ja unheimlich viele Variationen möglich. Und das ist eben wahnsinnig spannend. Manche Dossiers werden mit über 1000 Änderungsanträgen, die diskutiert und abgestimmt werden müssen, beschlossen. Da steckt wahnsinnig viel Arbeit drin und jeder Abgeordnete kann eben nicht nur über seinen Ausschuss, sondern ganz persönlich Änderungsanträge stellen. Da ist man auch nicht an die Fraktionsmeinung gebunden. Man ist selber verantwortlich.“

„Arbeitsparlament“ EU

Es gibt aber noch weitere Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ähnlich wie der Deutsche Bundestag ist das EU-Parlament kein Debattierparlament wie etwa das britische Parlament. Vielmehr werden hier die Entscheidungen in den Ausschüssen vorbereitet und dann im Parlament vor allem beschlossen, jetzt mal von Aussprachen und Ansprachen abgesehen.

Das führt im EU-Parlament zu Abstimmungsmarathons, bei denen vermutlich nicht jeder Abgeordnete über jede Gesetzesinitiative Bescheid weiß, sondern einfach nach Listen abstimmt. Wenn Martin Sonneborn, EU-Abgeordneter von „Die Partei“, einfach ein Abstimmungsbingo veranstaltet, wirkt das zwar lustig, ist aber kein konstruktiver Umgang mit dieser Form der parlamentarischen Demokratie. Er hat das Abstimmungsverhalten nach Kritik daran auch geändert.

Das EU-Parlament ist eben ein Arbeitsparlament, was einfach eine Form der parlamentarischen Demokratie ist. Wie kann man das aufbrechen? Das ist eben schwer möglich im Rahmen der europäischen Vereinbarungen, aber natürlich nicht unmöglich. Die Schweiz zeigt, dass auch direktdemokratische Elemente in einem politischen System vorherrschend sein können. Das sieht man dort daran, dass die Regierung weitestgehend Verwalter der vom Volk durch Entscheide herbeigeführten Interessen ist. Auch das hat Vor und Nachteile, die perfekte Lösung gibt es nicht.

Das Verhältniswahlrecht des EU-Parlaments

Es gibt weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Das EU-Parlament wird ausschließlich über das Verhältniswahlrecht bestimmt, sprich der prozentuale Anteil der Stimmen bei einer Wahl bestimmt, wie viele Abgeordnete einer Partei ins EU-Parlament entsendet werden können.

Im Deutschen Bundestag gibt es eine Mischform aus Verhältniswahlrecht, die Erststimme und Mehrheitswahlrecht, die Zweitstimme, wobei das Wahlergebnis über einen komplizierten Mechanismus immer wieder in Richtung Verhältniswahl korrigiert wird. Andere Länder sind da anders. Die Nationalversammlung in Frankreich wird zum Beispiel über das Mehrheitswahlrecht bestimmt. Auch Großbritannien ist dafür ein gutes Beispiel, aber natürlich nicht mehr Mitglied in der EU.

Aber das Europäische Parlament wird in allen EU-Ländern immer im Verhältniswahlrecht bestimmt. Dennoch gibt es hier eine Besonderheit: Große Länder verzichten zugunsten von Kleinländern auf Mandate, die ihnen qua der Anzahl der Wahlberechtigten zustehen würden. Hier findet also ein regionaler Ausgleich statt. Bedeutet aber umgekehrt auch: Das Verhältniswahlrecht ist eingeschränkt. Auch das kann man durchaus kritisch sehen. Das Pro-Argument ist, dass auch kleine Länder eine adäquate Mitsprache im Parlament haben. Das Kontraargument ist schlicht, dass der Wählerwille nicht 1 zu 1 berücksichtigt wird.

Ansonsten gibt es länderspezifische Besonderheiten. So gibt es in einigen Ländern eine Wahlpflicht. Und es gibt in vielen EU-Ländern eine Sperrklausel für die teilnehmenden Parteien, in vielen aber auch nicht. Für die Wahl 2029 wird auch für Deutschland eine Sperrklausel erwartet. Zudem gibt es einen entsprechenden Reformvorschlag, der eine Einführung von Sperrklauseln für große EU-Ländern zwingend vorsieht.

Wie Fraktionen im EU-Parlament gebildet werden

Einen sehr großen Unterschied gibt es im Vergleich zum Bundestag in Bezug auf die Fraktionen. Denn hier gibt es doch viele Regelungen, wann Parteien überhaupt eine Fraktion gründen dürfen. Zum einen müssen sich dafür mindestens 23 Abgeordnete finden. In ihr müssen mindestens sieben Mitgliedsstaaten vertreten sein.

Gerade nach der Wahl 2024 hat sich gezeigt, dass dies durchaus eine Hürde sein kann. Interessant ist hier auch: Fraktionen werden auch mal gerne verlassen oder man wird auch ausgeschlossen. Und andere Fraktionen nehmen Abgeordnete dann auf. Die Zusammensetzung ist also in der Praxis bei weitem nicht so starr wie im Deutschen Bundestag.

Abgeordnete, die keiner Fraktion angehören, sind fraktionslos. Das betrifft auch nach der EU-Wahl 2024 insgesamt zehn deutsche Parlamentarier, zum Teil auf eigenen Wunsch, wie schon der beschriebene Martin Sonneborn und seine Parteikollegin Sybille Berg von „Die Partei“, zum Teil weil ausgeschlossen, wie etwa Maximilian Graf von der „Alternative für Deutschland“. Zum Teil aber auch, weil sich keine passende Fraktion fand, wie es für die Abgeordnete von „Bündnis Sahra Wagenknecht“ gilt. Fraktionslose Abgeordnete haben viele Nachteile in Bezug auf Büroräume, Personal, finanzielle Mittel und in Bezug auf die Organisation von Ausschüssen und Delegationen.

Kein Fraktionszwang im EU-Parlament

Und dann gibt es noch einen sehr großen Unterschied in Bezug auf den Fraktionszwang. Zwar gibt es den rein formal auch im Deutschen Bundestag nicht. Die Abgeordneten sind ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet. De facto spielt der Fraktionszwang im Deutschen Bundestag aber eine immense Rolle. Er wird selten aufgehoben. Anders ist das im EU-Parlament. Hier stimmen natürlich die Mitglieder einer Fraktion tendenziell gleich ab. Aber es gibt hier keinen Zwang. Es ist sehr häufig so, dass Abgeordnete einer Fraktion auch gegen den Fraktionsvorschlag stimmen.

Pressesprecher Thilo Kunzemann beschreibt das so:

„Unsere Erfahrung ist, dass im Europäischen Parlament, so ist auch die Rückmeldung vieler Abgeordneter, die mal im nationalen Parlament gearbeitet haben oder in Länder oder regionalen Parlamenten, dass hier viel mehr noch über Fraktionsgrenzen, über Parteigrenzen hinaus kooperiert wird. Also dass es hier Teams gibt von Abgeordneten, die kann man sich in den Nationalstaaten gar nicht vorstellen. Das würde nicht funktionieren. Das funktioniert hier aber, weil die Leute wissen, dass sie auch gemeinsame Positionen hier im Parlament finden müssen für das, was sie umtreibt, wenn sie dann in den späteren Verhandlungen mit dem Rat bestehen wollen.“

Ein großer Unterschied zu Deutschland, das sorgt tatsächlich für eine gewisse Dynamik. Gut zu beobachten war das bei der Wiederwahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin. Es war nämlich nicht klar, ob sie ausreichend Fraktionen und innerhalb dieser ausreichend viele Abgeordnete von ihrer Wiederwahl überzeugen konnte. Gerade die konkrete Zahl der Ja-Stimmen und Nein-Stimmen ist im Vorfeld nicht exakt prognostizierbar. Jetzt gibt es das natürlich auch in Deutschland. In Erinnerung ist hier sicherlich Heide Simonis, die 2005 nicht zur Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein wiedergewählt wurde, weil es einen Abweichler in den eigenen Reihen gab. Aber das ist in Deutschland eben eher die Ausnahme. In der EU ist da deutlich mehr Dynamik vorhanden.

Thilo Kunzemann, Pressesprecher des EU-Parlaments:

„Bei uns ist es ja immer so Jedes Gesetz, das wir hier behandeln, muss dann auch mit dem Rat verhandelt werden. Und die Erfahrung zeigt, wenn Sie eine Position im Parlament haben mit zwei Stimmen Mehrheit, dann wird es den Verhandlungsführern des Parlaments sehr schwerfallen, in den Auseinandersetzungen mit den Ratsvertretern ihre Position im finalen Gesetz unterzubringen, weil die Ratsvertreter dann natürlich sagen: Wir brauchen euch ja gar nicht so viel Zugeständnisse zu machen. Eure Mehrheit ist ja total schwach und fällt ja eh gleich um. Da müssen wir euch gar nicht so weit entgegenkommen. Und sobald das Parlament eine wirklich große Mehrheit hinter seinen Positionen hat, hat es auch bessere Chancen, diese Position in den Trilogverhandlungen durchzusetzen. Und das motiviert über Parteigrenzen sehr, sehr viele. Und egal, wo die Leute sich politisch verorten, gibt es in allen Parteien hier immer noch Leute, die wirklich Sacharbeit machen wollen, die Themen haben, die ihnen wichtig sind, die sie vorantreiben wollen. Und die schaffen dann immer noch diese besondere Atmosphäre, die eigentlich seit Jahrzehnten hier auch besteht.“

Dies war eine Episode aus meiner Podcast-Rubrik „Bananenkrümmung & Co“. Diese Rubrik setzt sich mit Institutionellen, den Abläufen in der EU auseinander. Dieses Mal habe ich mich mit dem Europäischen Parlament beschäftigt. Weitere Institutionen werden folgen.

Transparenzhinweis zu dieser Episode über das EU-Parlament

Hier der Transparenzhinweis zu dieser Folge In dieser Folge fließen Statements und Informationen des EU-Parlaments ein. Statements des EU-Parlaments wurden von mir im Rahmen einer Reise nach Straßburg aufgenommen. Dazu habe ich eine Reisekostenunterstützung des EU-Parlaments erhalten und habe die Dienstleistung des EU-Parlaments für Journalisten genutzt, zum Beispiel die Aufnahmestudios in Straßburg. Natürlich haben die verschiedenen Institutionen keinerlei Einfluss auf die Inhalte und die Ausrichtung dieses Podcasts genommen.