Es rattert unaufhörlich und laut in der Fabrikhalle aus den 50er-Jahren, etwa 30 Zentimeter breite Transportbänder queren auf Deckenhöhe die Gänge, laufen dann wieder in Brusthöhe an verschiedenen Maschinen vorbei, manövriert durch Aufzüge. Die Logistik zumindest ist in der Brillenrezeptwerkstatt der Carl Zeiss Vision durch und durch automatisiert. Alles andere ist sehr individuell: Jedes der tagtäglich gefertigten 10.000 Brillengläser ist ein Unikat, 1000 Angestellte sorgen im Drei-Schicht-Betrieb dafür, dass ein Glas im Schnitt nach der Auftragsannahme innerhalb von 30 Stunden produziert wird.
Wenn Krach in der Fabrik ist und die „Gut-Quote“ – also die Quote der korrekt produzierten Brillengläser : bei nur wenig unter 100 Prozent liegt, dann ist Markus Haidl zufrieden. „Es ist immer wieder ein schwieriger Schritt, die neuen Entwicklungen reibungslos in den Prozess der Fabrik zu integrieren“, beschreibt er. Haidl ist Chef eines 60-köpfigen Teams hier in Aalen, sorgt dafür, dass die Brillengläser immer neue Entwicklungsschübe erleben.
Bei der sogenannten inkrementellen Innovation werden vorhandene Produkteigenschaften verbessert. „Zuletzt haben wir den Kratzschutz unserer Gläser so sehr verbessert, dass er dem von Glasgläsern entspricht“, sagt Haidl. Herausgekommen ist ein neues Produkt: DuraVision Platinum. „Für den Optiker ist das eine gute und einfache Story“, sagt Haidl. „Das sind Produkte, die deshalb gut am Markt ankommen.“ Der Optiker ist der eigentliche Kunde der Carl Zeiss Vision, Endkundengeschäft betreibt das Unternehmen nicht.
Bei der „Step-Innovation“ – der zweiten Entwicklungsstufe, die Haidl mit seinem Team definiert -, gibt es so schon bedeutendere Entwicklungen. „Da arbeiten wir daran, dass die Brillengläser immer individueller werden“, so Haidl. Sprich: Das Brillenglasdesign wird optimiert und „den Lebensweisen der Menschen immer besser angepasst“. Denn: Ob der Nutzer vor dem Bildschirm oder am Wochenende auf dem Segelschiff sitzt, ist auch für die optimalen Eigenschaften der Brille ein großer Unterschied. „Die Gläser werden dann für die entsprechenden Verwendungszwecke optimiert“, so Haidl.
Das ist indes alles andere als trivial, die Fertigungsproduktion hochkomplex. Die Gläser durchlaufen eine Vielzahl von Stationen. So werden etwa daumendicke Halbfabrikate zunächst mit der Außenseite auf einen Träger geklebt. Hintergrund: Carl Zeiss Vision erzeugt die geometrische Form des Glases mit der korrekten optischen Wirkung danach ausschließlich durch Bearbeitung der Rückseite des Glases – ein Verfahren, worauf die Firma ein Patent mit Gültigkeit in wichtigen Weltmärkten hält. Der Träger ist notwendig, damit das Glas dann später wirklich exakt justiert werden kann.
Die Diamantdrehmaschinen verarbeiten danach vollautomatisch diverse Parameter zu einem am Ende womöglich nur noch millimeterdickem Glas, Poliermaschinen sorgen dann auch auf der Rückseite – exakt abgewogen in Mittel und Druck – für eine glatte Fläche. Die richtige Optik für den Brillenträger steht nun.
Die immer besser werdende Präzision der Fertigungsmaschinen ließ sich durch eine revolutionäre Entwicklung – einer Leap-Innovation – nutzen. So bewegte zuletzt „i.Scription“ – eine Refraktionsmethode in Kombination mit einem Gerät für den Optiker, welches anhand der Wellenfront des Auges verschiedene Parameter deutlich genauer als nach bisherigen Verfahren misst – den Markt. 2006 kam das Gerät und die Methode auf den Markt, „bis heute haben wir darauf ein Alleinstellungsmerkmal“, betont Haidl. Mit ungeahnten Möglichkeiten: Plötzlich können Menschen wieder bei Nacht Autofahren, weil sie durch die individuell berechnete und angepasste Brille viel besser sehen können. Dabei haben Leap-Innovationen bei Carl Zeiss eine gute Tradition: So stammt die Idee der Entspiegelung von Gläsern aus den Entwicklungslaboren der Firma – und das ist auch heute noch ein wichtiges Thema.
Zuständig für diesen Antireflex ist die geheimnisumwitterste Station in der Fabrik, die Beschichtung. Im Reinraum arbeiten hier die Physiker, Ingenieure und Anwendungstechniker daran, im partikelfreien Vakuum Substanzen – manchmal nur wenige Atome dick – auf das Glas zu dampfen. In einer Art Karussell werden dazu die einzelnen Gläser eingespannt, 120 Stück pro Vorgang. 45 Minuten dauert der Beschichtungsvorgang, dann wird gewendet, und weitere 45 Minuten verschwinden die Gläser im Vakuum. Penibel werden hier Temperatur und Zusammensetzung der Stoffe korrigiert. Ein kleiner Fehler sorgt für den Ausfall der kompletten Charge. 120 Gläser also – im Endverkauf bis zu mehrere Hundert Euro teuer pro Stück – gehen dann in den Abfall. Und alles beginnt bei Null am Anfang der Prozesskette.
Was genau dieses im Urzustand weiße Pulver enthält, welches die Anlagentechniker eingeben: Betriebsgeheimnis. Wie es am besten aufgetragen wird, welche Rahmenbedingungen die besten sind: Auch das entwickelt das 60-Personen-Team von Haidl streng geheim im Forschungslabor an identischen Apparaturen. Was die Zukunft bei den Beschichtungsverfahren bringen wird: ein offenes Geheimnis in der Branche. „Wir – und vermutlich alle Wettbewerber – arbeiten an einer Beschichtung, die das Beschlagen von Brillengläsern dauerhaft verhindern soll“, beschreibt der angewandte Physiker. „Das Problem ist hier die Beständigkeit, bisherige Stoffe halten meist nur ein bis zwei Tage.“ Bisher ist es niemanden gelungen, dieses Problem praxistauglich zu beheben. „Der Wettbewerbsdruck ist in jedem Fall immens“, sagt Haidl, der mit seinem Team natürlich auch die verschiedenen Veröffentlichungen zu diesem Thema und die Patentanmeldungen der Wettbewerber ständig im Blick hat.
Auch auf Haidls Brille könnten da schon erste Versuche stattfinden: Der Physiker nimmt sein Brillengestell in die rechte Hand und schaut etwas kritisch. „Das Gestell gefällt mir eigentlich nicht“, gibt er unumwunden zu. „Es hat aber als Testgestell gute Eigenschaften.“ Natürlich sagt jeder Optiker: Die empfindlichen Brillengläser dürfen nur mit Mikrofasertuch geputzt werden. Haidl: „Ich benutze dazu auch gerne mal meinen Pullover.“ Aber genau das überzeugt ihn auch an seinen derzeitigen Testgläsern. „Sie lassen sich sehr gut reinigen und sind enorm kratzfest.“
Natürlich haben seine Testgläser auch den typisch blau-silbrigen Restreflex. Ein wichtiges Qualitätsmerkmal, denn der blaue Restreflex ist wesentlich anfälliger für Schwankungen im sehr komplizierten Beschichtungsprozess, als das sonst meist übliche Grün. „Mir persönlich ist das rein ästhetisch betrachtet nicht so wichtig“, sagt Haidl. „Aber unsere Kunden achten da sehr drauf, dass die Reflexfarbe schön blau ist.“
Und so blickt Haidl auch bei seinem Brillentestmodell mit seinen grau-grünen Augen durch die blau-silbrig schimmernden High-Tech-Gläser. Denn für Mitarbeiter von Carl Zeiss gilt nun einmal: Die Augen haben hier gefälligst blau zu sein – und wenn auch nur über den Restreflex des Glases.
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